Forschende des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) haben ein neues KI-Modell entwickelt, das Risiken und Verläufe von mehr als 1000 Erkrankungen vorhersagen soll. Das Modell mit dem Namen Delphi-2M soll ausserdem Prognosen für den gesundheitlichen Zustand für in bis zu 20 Jahren geben.
Grundlage der in «Nature» publizierten
Studie waren Daten von 400'000 Personen aus der UK Biobank, validiert an 1,9 Millionen Datensätzen aus Dänemark. Trainiert als sogenanntes «Generative Pre-trained Transformer»-Modell (GPT), lernte es, zeitliche Krankheitsverläufe («health trajectories») zu prognostizieren.
Bei Erkrankungen mit klaren Mustern wie Herzinfarkt oder bestimmten Krebsarten konnte das KI-Modell relativ zuverlässige Vorhersagen liefert. Weniger treffsicher war es hingegen bei komplexen oder seltenen Erkrankungen, psychischen Störungen und Schwangerschaftskomplikationen. Die Forschenden betonen, dass das Modell noch nicht für den klinischen Einsatz gedacht sei und durch weitere Daten – etwa Laborwerte oder genetische Informationen – ergänzt werden müsse.
Chancen und Risiken - Expertenmeinungen
Das
Science Media Center (SMC) hat unabhängige Fachleute um eine Einordnung gebeten. Die Einschätzungen zeigen, wie ambivalent das Potenzial von Delphi-2M bewertet wird.
So betont der Potsdamer Medizinethiker Robert Ranisch die Möglichkeiten, warnt aber auch vor überzogenen Erwartungen: «Bei allen Potenzialen dürfen wir uns nicht in eine KI-gestützte Glaskugelschau verrennen – auch die besten Modelle erkennen Muster, aber sie sagen keine Zukunft voraus.» Zudem sieht er erhebliche Risiken durch Verzerrungen in den Daten, die zu systematischer Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen führen könnten.
Aus wissenschaftlicher Sicht hebt Carsten Marr vom Helmholtz Zentrum München hervor, dass die Architektur generativer Sprachmodelle auf Gesundheitsdaten übertragen wurde: Statt der nächsten Silbe sage das Modell das nächste gesundheitliche Ereignis voraus. Besonders spannend sei, dass sich so neue Korrelationen zwischen Krankheiten aufdecken lassen – ähnlich wie frühere Studien den Zusammenhang zwischen Epstein-Barr-Virus und Multipler Sklerose nachweisen konnten.
«Das Modell stellt einen robusten Ansatz dar, um auf Populationsebene Krankheitslasten vorherzusagen, Szenarien unter Variation verschiedener Risikofaktoren zu simulieren und Versorgungsplanung oder Präventionsstrategien datenbasiert zu unterstützen.» Julian Varghese, Universität Magdeburg
Auch Julian Varghese von der Universität Magdeburg sieht den Mehrwert vor allem auf Ebene der Versorgungsplanung. Das Modell sei geeignet, Krankheitslasten in Populationen abzuschätzen und Präventionsstrategien zu simulieren, weniger jedoch für den patientenindividuellen Einsatz.
Ethische Leitplanken seien daher entscheidend, betont Markus Herrmann, Leiter für KI-Ethik an der Universität Heidelberg. Für klinische Entscheidungen könne Delphi-2M höchstens ein ergänzender Baustein sein, der immer ärztlich eingeordnet werden müsse. Vor allem aber müsse klar sein, dass Patientinnen und Patienten ein «Recht auf Nicht-Wissen» haben: «Ganz allgemein darf das Individuum nicht mit den Ergebnissen der Berechnung ihrer persönlichen Risikobewertung konfrontiert werden, ohne dass sie dem zuvor zustimmt.»
Relevanz für die Praxis
Für die ärztliche Praxis bleibt Delphi-2M vorerst ein Forschungsinstrument. Chancen liegen vor allem darin, komplexe Zusammenhänge zwischen Erkrankungen besser zu verstehen und bevölkerungsbezogene Strategien datenbasiert zu entwickeln. Gleichzeitig stellen sich Fragen der Fairness, der Kommunikation von Wahrscheinlichkeiten und des Datenschutzes.
Deutlich wird: Generative KI kann weit mehr als Sprache – sie eröffnet auch neue Perspektiven auf Krankheitsverläufe. Doch bis zu einem klinischen Einsatz ist es ein langer Weg, der nicht nur technische, sondern auch ethische und rechtliche Antworten erfordert.