Hypoglykämien gehören zu den häufigsten Komplikationen bei Personen mit Diabetes mellitus. Auslöser können zu wenig Nahrung, eine Überdosierung von Insulin, unerwartete körperliche Anstrengung oder zu viel Alkohol sein. Gefährlich sind Unterzuckerungen, weil sie zu Folgeschäden und Bewusstlosigkeit führen können. Im schlimmsten Fall sind sie sogar tödlich. Umso wichtiger ist es, den Blutzucker regelmässig zu testen. So kann im Notfall rasch eingegriffen werden.
In der Regel braucht es für die Blutzuckermessung einen Tropfen Blut aus der Fingerspitze. Für Personen, die häufig ihren Zuckerwert messen müssen, stellen kontinuierliche Glukosemesssysteme oder kurz CGM eine hilfreiche Alternative zum Fingerstich dar. CGM-Systeme verwenden einen feinen Sensor, der entweder am Oberarm oder am Bauch unter die Haut eingeführt wird. Dort misst er alle fünf Minuten den Zuckergehalt in der Gewebeflüssigkeit und leitet die Daten an ein ablesbares Gerät weiter.
Smartwatch misst physiologische Signale
In Zukunft könnten auch Smartwatches bei der Messung des Blutzuckers eine Rolle spielen. In einer Pilotstudie konnten Forscher des Inselspitals, Universitätsspital Bern, und der Universität Bern in Zusammenarbeit mit Forschenden der ETH Zürich und der Universität St. Gallen zeigen, dass maschinelles Lernen Unterzuckerungen allein anhand von Daten, die von handelsüblichen Smartwatches gesammelt werden, diagnostizieren kann. Die Methode ist nicht invasiv.
An der Studie nahmen 31 erwachsene Personen mit verschiedenen Typen von Diabetes mellitus teil. Alle trugen über einen Zeitraum von mindestens 30 Tagen Smartwatches, die die folgenden Daten erfassten:
- Zeit,
- Herzfrequenz,
- Herzfrequenzvariabilität,
- Körperbewegung und
- elektrodermale Aktivität.
Gleichzeitig wurden die Probanden mit CGM-Systemen zur kontinuierlichen Aufzeichnung der Blutzuckerwerte ausgestattet. Insgesamt wurden über 95 000 CGM-Messpunkte gesammelt. Davon lagen 2,3 Prozent in einem Bereich von weniger als 3,9 Millimol Glucose pro Liter (Hypoglykämie) und 26,3 Prozent in einem Bereich von mehr als 10 Millimol Glucose pro Liter (Hyperglykämie).
Computermodell lernt anhand von Smartwatch-Daten
Von den 31 Probanden hatten 22 im Verlauf der Studie mindestens zweimal eine Unterzuckerung. Mit dem Datensatz dieser 22 Personen entwickelte das Forscherteam ein Computermodell, das mittels maschinellen Lernens darauf trainiert wurde, die Smartwatch-Daten einer von zwei möglichen Kategorien zuzuordnen: «Unterzuckerung» oder «keine Unterzuckerung», wobei die Kategorie «Unterzuckerung» nur dann zutraf, wenn die CGM-Messpunkte für mindestens 15 Minuten unter 3,9 Millimol Glucose pro Liter rutschen.
Mit dem so entwickelten Computermodell gelang es dem Forscherteam mit 76-prozentiger Sicherheit eine Unterzuckerung anhand von Smartwatch-Daten zu erkennen. Herzfunktionen, elektrodermale Aktivität und Tageszeit erwiesen sich dabei als geeignete Kenngrössen für das Modell. Bewegungsdaten waren dagegen weniger nützlich, auch wenn die Bewegung der Studienteilnehmern in Phasen der Unterzuckerung messbar abnahm.
Der Studienleiter Prof. Dr. med. Christoph Stettler, Chefarzt an der Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin & Metabolismus des Inselspitals, freut sich über die vielversprechenden Ergebnisse: «Unsere Pilotstudie liefert einen wichtigen Proof-of-Concept, dass sich bei Personen mit Diabetes mellitus eine Unterzuckerung auf sehr einfache Weise und in Echtzeit mittels Smartwatch-Daten und Maschinenlernen detektieren lässt. Dass bei rund zwei Dritteln der Studienteilnehmern trotz CGM-Systemen mindestens zweimal eine Unterzuckerung auftrat, unterstreicht die Notwendigkeit zusätzlicher Kontrollmöglichkeiten. Smartwatches könnten diese Funktion erfüllen.»
Im nächsten Schritt will das Forscherteam weitere Studien mit einer grösseren Anzahl von Teilnehmenden durchführen. Dabei soll auch getestet werden, wie sich die Methode bei verschiedenen Diabetestypen oder im Fall von multiplen Erkrankungen bewährt.PS