Symptome wie Benommenheit, Schwindel, Übelkeit oder innere Unruhe treten bei vielen Patientinnen und Patienten auf, wenn sie Antidepressiva reduzieren oder absetzen.
Zwei jüngst veröffentlichte Meta-Analysen – eine aus Deutschland («
The Lancet Psychiatry», Juli 2024), die andere aus Grossbritannien («
JAMA Psychiatry», Juli 2025) – beziffern die Häufigkeit dieser Symptome mit 31 Prozent (bzw. 15 Prozent nach Abzug von Nocebo-Effekten).
Doch wie aussagekräftig sind diese Studien? Das
Science Media Center Germany hat mehrere Expertinnen und Experten um eine Einschätzung gebeten. Für Prof. Dr. Michael Hengartner, Professor für klinische Psychologie an der Kalaidos Fachhochschule Zürich und Co-Autor einer
Re-Analyse der deutschen Meta-Studie, geht die Diskussion über Zahlen weit hinaus – sie betrifft zentrale Fragen der klinischen Praxis.
Kritik an der Datenlage: «Müll rein, Müll raus»
Besonders scharf kritisiert Hengartner die Methodik der beiden vielbeachteten Meta-Analysen. Sie stützten sich fast ausschliesslich auf Kurzzeitstudien mit Behandlungsdauern unter drei Monaten – dabei zeige die Evidenz, dass Entzugssymptome vor allem bei längerer Einnahme (nach 6 Monaten) auftreten. Ein weiterer methodischer Fauxpas: Die Bestimmung von Entzugssymptomen beruhte meist auf spontanen Selbstberichten oder auf unzuverlässigen Indikatoren wie der Rate schwerwiegender unerwünschter Ereignisse.
«Werden hauptsächlich verzerrte Studien mit geringer Aussagekraft ausgewertet, so sind auch die meta-analytischen Schätzungen verzerrt und nicht aussagekräftig. Oder salopp ausgesprochen: Wenn überwiegend Müll zusammengetragen wird, kommt auch Müll dabei raus.» Michael Hengartner.
In einer Re-Analyse kam Hengartner auf eine deutlich höhere Inzidenzrate: 55 Prozent, wenn nur methodisch robuste Studien berücksichtigt werden, die Entzugssymptome systematisch mit einem geeigneten Messinstrument erfasst haben.
Geringer Nutzen bei leichten Depressionen
Für Hengartner steht nicht nur die Methodik, sondern auch die Verschreibungspraxis in der Kritik. Trotz klarer
Leitlinienempfehlungen würden Antidepressiva auch bei leichten Depressionen breit eingesetzt – obwohl dort der Nutzen gering und das Risiko für Nebenwirkungen und Entzugssymptome nicht zu unterschätzen sei.
«Bei moderaten und schweren Depressionen sind Antidepressiva im Durchschnitt schwach wirksam, je stärker die Depression, desto grösser der Nutzen», sagt Hengartner. Langfristig wirke Psychotherapie sogar besser als Antidepressiva. Obwohl Behandlungsleitlinien diesen Erkenntnisstand gut abbilden, zeige sich in der Praxis ein anderes Bild: «Die Mehrheit aller verschriebenen Antidepressiva entfällt auf eine Patientenpopulation, wo ihr Nutzen fraglich ist.»
«Entzugssymptome» statt «Absetzsymptome»
Auch die Wahl des Begriffs, mit dem das untersuchte Syndrom in den vorliegenden Studien beschrieben wird, gibt Anlass zu Kritik. «Es ist konsequent und korrekt, die Bezeichnung Entzugssymptome zu verwenden», betont Hengartner. Körperliche Abhängigkeit sei eine gut dokumentierte Folge der kontinuierlichen Einnahme von Substanzen, die im Zentralen Nervensystem wirken, wie Antidepressiva. PET-Studien hätten schon nach wenigen Wochen Einnahme gegenregulative Veränderungen im Serotonin-System gezeigt – etwa eine Abnahme von Rezeptoren.
Dass diese Form der Abhängigkeit nicht mit Sucht verwechselt werden dürfe, sei dennoch entscheidend: «Antidepressiva verursachen körperliche Abhängigkeit, aber kein Suchtverhalten», so Hengartner. Der Begriff «Absetzsymptome» sei Ende der 1990er-Jahre von der Industrie gezielt eingeführt worden, um Entzugserscheinungen sprachlich zu entschärfen.
Fazit: Mehr Forschung, ehrliche Aufklärung
Hengartner plädiert für mehr Langzeitstudien, eine sorgfältigere Abwägung bei der Verschreibung und eine offene Aufklärung über mögliche Entzugssymptome. Dabei gehe es nicht um eine pauschale Ablehnung, sondern um Präzision, Transparenz – und den Willen, Patientinnen und Patienten in ihrer individuellen Situation ernst zu nehmen.
Die Aussagen von Prof. Hengartner wurden im Rahmen einer Expertendiskussion des Science Media Center Germany (SMC) eingeholt. Weitere Fachleute – darunter Prof. Dr. Tom Bschor, Prof. Dr. Jörg Meerpohl und PD Dr. Jonathan Henssler – haben zum gleichen Thema Stellung genommen, teils mit abweichenden Einschätzungen zur Methodik, zur Begriffswahl und zur klinischen Relevanz.
Zu den Originalpublikationen: