Einleitung
Die Transthyretin-Amyloidose (ATTR-Amyloidose) gehört mit der Leichtketten(AL)-Amyloidose zu den häufigsten kardialen Amyloidosen. Sie ist eine progressive Multiorganerkrankung, bei der sich fehlgefaltetes TTR-Protein in Form von Amyloidfibrillen in verschiedenen Organen ablagert [1]. Diese Ablagerungen führen zu einer zunehmenden Funktionsstörung insbesondere des Herzens und des peripheren Nervensystems.
Die Herausforderung liegt in der oft verzögerten Diagnosestellung, da initiale Symptome unspezifisch sind und verschiedenen Fachgebieten zugeordnet werden können [2]. Dabei ist die frühzeitige Diagnose entscheidend, da moderne Therapien zur Verfügung stehen aber das Fortschreiten der Erkrankung nur dann wirksam aufhalten können, wenn sie vor irreversiblen Organschäden begonnen werden [3].
Pathophysiologie, Krankheitsformen und Prognose
Transthyretin wird primär in der Leber synthetisiert und dient dem Transport von Thyroxin und Retinol. Bei der ATTR-Amyloidose kommt es aufgrund erblicher Mutationen auf dem TTR-Gen (hereditäre Form, ATTRv- oder hATTR-Amyloidose) oder altersbedingter Instabilität (Wildtyp-Form, wtATTR-Amyloidose) zur Fehlfaltung des Proteins, dessen Dissoziation und in der Folge zur Bildung von pathogenen Amyloidfibrillen [1].
Hereditäre ATTR-Amyloidose
Die hereditäre ATTR-Amyloidose manifestiert sich in der überwiegenden Zahl der Fälle multisystemisch mit neurologischen, kardialen und autonomen Symptomen [3] [4]. Es sind etliche Mutationen bekannt, von denen über 130 als amyloidogen bekannt sind [5].
Je nach Mutation kommt es zu unterschiedlichen Phänotypen. Die Variabilität betrifft sowohl den klinischen Beginn der Erkrankung als auch die initiale Organmanifestation. Während beispielsweise bekannt ist, dass die Val30Met Mutation einerseits als «late onset» ab 60 Jahren, andererseits als «early onset» bereits im Alter von weniger als 30 Jahren auftreten kann, beobachtet man den Symptombeginn bei der Val122Ile Mutation erst etwa um das 60. Lebensjahrzehnt [5]. Val30Met manifestiert sich in der Regel ausgeprägt neurologisch, während z.B. Val122Ile, Ile68Leu und Thr60Ala primär ausgeprägte kardiologische Symptome mit einer rapiden Progression hervorrufen und es bei Thr60Ala gleichzeitig im Verlauf auch zu deutlichen neurologischen Beeinträchtigungen kommt [5].
Während die Erkrankung einem autosomal-dominantem Erbgang folgt, wird bei Männern eine höhere Penetranz der TTR-bedingten Amyloidose beobachtet als bei Frauen, allerdings ohne bisher geklärten pathophysiologischen Mechanismus [5].
Wildtypform der ATTR-Amyloidose
Amyloid aus Wildtyp-TTR verursacht eine restriktive Kardiomyopathie, die vorwiegend bei Männern um die 70 Jahre auftritt, seltener auch vor dem 60. Lebensjahr. Typischerweise manifestiert sich die Erkrankung als Herzinsuffizienz, sobald ausgeprägte linksventrikuläre Wandverdickungen durch das Amyloid vorliegen [6].
Prognose
Die Lebenserwartung bei ATTR-Amyloidose variiert innerhalb der Formen und Phänotypen und beträgt bei Herzbeteiligung ohne Therapie etwa 2 bis 5 Jahre ab Diagnose [3].
Ein zeitnaher Therapiebeginn mit krankheitsmodifizierenden Maßnahmen in frühen Erkrankungsphasen verbessert die Prognose durch Reduktion von Morbidität und Mortalität, weshalb eine schnelle und frühzeitige Diagnose essenziell ist [7] [8].
Klinische Warnzeichen und diagnostisches Vorgehen
Die ATTR-Amyloidose erfordert eine besonders aufmerksame familienanamnestische und klinische Abklärung, da ihre Symptome häufig fehlgedeutet werden [2]. Besondere Bedeutung kommt der genetischen Testung und der systematischen Erfassung neurologischer Symptome bei kardial betroffenen Patienten zu, da dies die Therapieoptionen entscheidend beeinflusst [9]. Beim Nachweis einer vererbten ATTR-Amyloidose und einer Polyneuropathie stehen zusätzliche, moderne Medikamentenklassen, wie RNA-Interferenz-Therapeutika, zur Verfügung [3].
Kardiale Leitsymptome [10]
- Linksventrikuläre Hypertrophie >12mm
- Herzinsuffizienz mit erhaltener Auswurffraktion (HFpEF)
- Niedervoltage und/oder Pseudo-Infarkt (Q-Wellen) im EKG
Neurologische Red Flags (auch für Kardiologen relevant) [3]
- Sensorische Störung: Beidseitige distale Parästhesien (Kribbeln, Taubheit)
- Motorische Störungen: Gangunsicherheit, Schwäche der unteren Extremitäten
- Autonome Dysfunktion: Orthostatische Hypotonie, erektile Dysfunktion
- Gastrointestinale Symptome: Wechselnde Diarrhö und Obstipation, ungewollter Gewichtsverlust
Unspezifische Symptome [10]
- Karpaltunnelsyndrom, oft beidseitig
- Spinalkanalstenose
- Bizepssehnenruptur
Diagnostische Strategien
Zunächst muss eine Leichtketten(AL)-Amyloidose ausgeschlossen werden, da diese einen medizinischen Notfall darstellt. Die klonale Dyscrasie wird durch einen Serum-Freileichtketten-(FLC)-Assay, eine Serum- und Urinprotein-Elektrophorese mit Immunfixation (SPE/UPE) ausgeschlossen [10].
Bei Verdacht auf kardiale ATTR-Amyloidose sollte eine stufenweise Abklärung erfolgen [10]:
1. Nicht-invasive Diagnostik
Echokardiographie [1]
- LV-Wandverdickung > 12mm
- Starre der Ventrikelwände: Häufig diastolische Funktionsstörung und restriktive Kardiomyopathie mit eingeschränkter diastolischer Füllung
- Feine Granularität: Gelegentlich sichtbar als "Sparkling" im Myokard, auch speckle tracking
- Apical Sparing im GLS (Global Longitudinal Strain)
99mTC-DPD Szintigraphie
(Grad 2-3 myokardiale Traceraufnahme ist hochspezifisch für ATTR-Amyloidose)
Die Kombination aus negativer Klonaldiagnostik und positiver Szintigraphie ermöglicht eine histologiefreie ATTR-Diagnose [10].
Kardiale MRT
(charakteristisches Late-Gadolinium-Enhancement) [1]
2. Bioptische Sicherung
Bei unklaren Fällen (Fettgewebs- oder Endomyokardbiopsie) [11]
3. Genetische Testung
Experten (Swiss Amyloidosis Network (SAN)) in der Schweiz empfehlen bei jedem Verdacht auf ATTR-Amyloidose und unabhängig vom Alter des Patienten die genetische Testung [12]. Die Ätiologie hat wesentliche Konsequenzen für Familienangehörige des Indexpatienten. Bei asymptomatischen Genträgern sollte eine regelmäßige Verlaufsuntersuchung spätestens 10 Jahre vor dem prognostizierten Krankheitsausbruch in Betracht gezogen werden [12].
4. Neurologisches Konzil
Alle Patienten mit Verdacht auf ATTR-Amyloidose sollten eine komplette neurologische Evaluation erhalten, unabhängig von primärer Organmanifestation [13]. Bei der hereditären Form ist die neurologische Abklärung entscheidend für die Frühdiagnose, bevor kardiale Symptome auftreten [14]. Eine retrospektive Erhebung hat gezeigt, dass Patient:innen nicht unbedingt von neurologischen Symptomen berichteten, obwohl Auffälligkeiten in der neurologischen Diagnostik bereits vorhanden waren [15].
Therapeutische Optionen in der Schweiz
Die Behandlung richtet sich nach der Krankheitsform (hereditär oder Wildtyp) und den betroffenen Organsystemen [9]:
Bei hereditärer ATTR-Amyloidose mit Polyneuropathie:
- Gen-Silencing-Therapien:
- die RNAi-Therapeutika Vutrisiran [16] und Patisiran [3]
- die ASOs Inotersen und Eplontersen [3]
Bei hereditärer oder Wildtyp-Form mit Kardiomyopathie
- TTR-Stabilisatoren (Tafamidis) [9]
(Stand 07.04.2025)
Besonders wichtig sind frühzeitige Identifikation von Patient:innen mit Polyneuropathie und die genetische Testung, da für Patient:innen mit einer vererbten Form der Erkrankung auch die modernen RNA-Interferenz (RNAi)-Therapien zur Verfügung stehen, die die Produktion des pathogenen TTR-Proteins an der Quelle unterbinden [3].
Zusammenfassung
Die ATTR-Amyloidose erfordert eine erhöhte klinische Wachsamkeit, insbesondere bei [1, 2]:
- Unklarer Kardiomyopathie
- Kombination von kardialen und neurologischen Symptomen
- Positiver Familienanamnese für Neuropathie oder Kardiomyopathie
Kardiologen sollten einerseits bei jeder/m Patient:in mit Verdacht auf ATTR-Amyloidose systematisch nach neurologischen Symptomen fahnden, da dies die Therapieoptionen entscheidend erweitert [9]. Die genetische Testung ist obligat für alle Patient:innen, auch für diejenigen mit ATTR-CM (Transthyretin-Amyloidose mit kardialer Beteiligung) unabhängig vom Manifestationsalter, insbesondere aufgrund der variablen Expressivität, der Bedeutung für gefährdete Angehörige sowie der Unterschiede in den krankheitsmodifizierenden Therapien mit entsprechendem Einfluss auf mögliche Therapieziele [3] [12].
Mit den heute verfügbaren Behandlungen kann das Fortschreiten der Erkrankung wirksam verlangsamt werden - vorausgesetzt, die Diagnose wird rechtzeitig gestellt [1] [9].
Abkürzungen & Referenzen
Abkürzungen
ASO, antisense oligonucleotide; EKG, Echokardiographie; LV, linksventrikulär; MRT, Magnetresonanztomographie; RNAi, RNA-Interferenz; siRNA, small interfering RNA; 99mTC-DPD, 99mTechnetium-3,3-Diphosphono-1,2-propanodicarbonsäure; TTR, Transthyretin;
Referenzen
1. Maurer MS, Elliott P, Comenzo R, Semigran M, Rapezzi C. Addressing common questions encountered in the diagnosis and management of cardiac amyloidosis. J Am Coll Cardiol. 2018;72(17):2040-2050.
2. Ruberg FL, Grogan M, Hanna M, Kelly JW, Maurer MS. Transthyretin amyloid cardiomyopathy: JACC state-of-the-art review. Circulation. 2019;140(1):16-26.
3. Adams D, Gonzalez-Duarte A, O'Riordan WD, et al. Patisiran, an RNAi therapeutic, for hereditary transthyretin amyloidosis. Neurology. 2019;93(23):e2089-e2100.
4. Ungerer M, Katus HA, Bauer R. Amyloidose: Neue diagnostische und therapeutische Optionen. Dtsch Med Wochenschr. 2021;146(6):387-394.
5. Kittleson MM, Ruberg FL, Ambardekar AV, et al. 2023 ACC expert consensus decision pathway on comprehensive multidisciplinary care for the patient with cardiac amyloidosis. J Am Coll Cardiol. 2023;81(11):1076-1126. doi:10.1016/j.jacc.2022.11.022
6. Ruberg FL, Berk JL. Transthyretin (TTR) cardiac amyloidosis. Circulation. 2012;126(10):1286-1300.
7. Fumagalli C, Maurer MS, Marchionni N, Fornaro A. Cardiac amyloidosis: the great pretender. Mayo Clin Proc. 2021;96(8):2185-2191. doi:10.1016/j.mayocp.2021.04.021
8. Maurer MS, Schwartz JH, Gundapaneni B, et al. Tafamidis treatment for patients with transthyretin amyloid cardiomyopathy. N Engl J Med. 2023;389(17):1553-1565. doi:10.1056/NEJMoa2300757
9. Kristen AV, Brokbals E, Aus dem Siepen F, et al. Cardiac amyloidosis: updates in diagnosis and management. Eur Heart J. 2020;41(39):3859-3867.
10. Garcia-Pavia P, Rapezzi C, Adler Y, et al. Diagnosis and treatment of cardiac amyloidosis: a position statement of the ESC Working Group on Myocardial and Pericardial Diseases. Eur Heart J. 2021;42(16):1554-1568. doi:10.1093/eurheartj/ehab072
11. Gillmore JD, Maurer MS, Falk RH, et al. Nonbiopsy diagnosis of cardiac transthyretin amyloidosis. Circulation. 2016;133(24):2404-2412.
12. Condoluci A, Théaudin M, Schwotzer R, et al. Management of transthyretin amyloidosis. Swiss Med Wkly. 2021;151:w30053.
13. Polydefkis M, Coelho T, Gillmore JD, et al. Multidisciplinary management of transthyretin amyloidosis: 2023 consensus recommendations. Eur J Neurol. 2023;30(5):1458-1472. doi:10.1111/ene.16045
14. Hund M, Eriksson U, Hundsberger T, et al. Transthyretin-Amyloidose: Eine interdisziplinäre Herausforderung. Swiss Med Forum. 2020;20(47-48):870-875. doi:10.4414/saez.2020.18821
15. Kaku, M. C., Bhadola, S., Berk, J. L., Sanchorawala, V., Connors, L. H., & Lau, K. H. V. (2022). Neurological manifestations of hereditary transthyretin amyloidosis: a focus on diagnostic delays. Amyloid, 29(3), 184–189. https://doi.org/10.1080/13506129.2022.2046557
16. Adams D, Tournev IL, Taylor MS, et al. Efficacy and safety of vutrisiran for patients with hereditary transthyretin-mediated amyloidosis with polyneuropathy: a randomized clinical trial. Amyloid. 2023;30(1):1-9. doi:10.1080/13506129.2022.2091985
17. Conceição I, González-Duarte A, Obici L, et al. “Red-flag“ symptom clusters in transthyretin familial amyloid polyneuropathy. J Peripher Nerv Syst. 2016; 21(1): 5 – 9;