Home/Wie entwickelte sich Laktosetoleranz in Europa?

Wie entwickelte sich Laktosetoleranz in Europa?

Bislang wurde weithin angenommen, dass die Laktosetoleranz entstand, weil sie dem Menschen erlaubte, mehr Milch und Milchprodukte zu konsumieren. Die neue Forschung legt jedoch eine andere Ursache nahe.

JGU9.8.20223"
In einer neuen Studie widerlegen Wissenschaftler der University of Bristol, des University College London (UCL) und der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zusammen mit Kollegen aus 20 anderen Ländern einige langjährige Annahmen darüber, warum der Mensch als Erwachsener die Fähigkeit entwickelt hat, den Milchzucker Laktose zu verdauen.

Heute etwa ein Drittel der Erwachsenen laktasepersistent
Um Laktose zu verdauen, ist das Enzym Laktase erforderlich. Fast alle Säuglinge produzieren Laktase, aber bei vielen Menschen nimmt diese Produktion zwischen dem Abstillen und dem Jugendalter rasch ab. Das genetische Merkmal der Laktasepersistenz hat sich jedoch in den letzten 10.000 Jahren mehrfach entwickelt und in verschiedenen milchtrinkenden Bevölkerungsgruppen in Europa, Zentral- und Südasien, dem Nahen Osten und Afrika verbreitet. Heute ist etwa ein Drittel der Erwachsenen in der Welt laktasepersistent. «Die genetische Variante der Laktasepersistenz wurde durch eine Art turbogeladene natürliche Selektion auf eine hohe Frequenz gebracht», so Prof. Mark Thomas, einer der Studienautoren. «Das Problem: Eine solch starke natürliche Selektion ist schwer zu erklären.»

«Um zu verstehen, wie sich die Laktasepersistenz entwickelt hat, müssen wir zunächst wissen, wo und wann die Menschen Milch konsumiert haben», ergänzt Prof. Richard Evershed, Hauptautor der Studie. Die Auswertung einer Datenbank mit fast 7.000 organischen Rückständen aus archäologischen Keramikgefässen ergab, dass Milch in der europäischen Vorgeschichte seit den Anfängen der Landwirtschaft vor fast 9.000 Jahren in grossem Umfang verwendet wurde.

Kein Zusammenhang: Höhe des Milchkonsums und Laktasepersistenz
Mit diesem neuen und detaillierten Bild der prähistorischen Milchverwendung konnten sich Forscher nun der Frage zuwenden, wie diese mit der Evolution der Laktasepersistenz zusammenhängt.

Eine Auswertung der DNA-Sequenzen von mehr als 1.700 prähistorischen Individuen ergab, dass die Laktasepersistenz vor 3000 Jahren bereits in nennenswerter Häufigkeit vorhanden war. Als nächstes untersuchte das Team, inwieweit Veränderungen der Höhe des Milchkonsums im Laufe der Zeit die natürliche Selektion für Laktasepersistenz erklären. Bemerkenswerterweise fanden sie keinen Zusammenhang.

Diese Ergebnisse stellen die seit Langem vertretene Ansicht in Frage, dass das Ausmass des Milchkonsums die Entwicklung der Laktasepersistenz förderte. Daher warf die Untersuchung die Frage auf: Wenn es nicht der Milchkonsum war, was trieb dann diese turbogeladene natürliche Selektion an?

Laktoseintoleranz bei geschwächten Personen lebensbedrohlich
«Kurz gesagt war der Milchkonsum in Europa mindestens 9.000 Jahre lang weit verbreitet und gesunde Menschen, auch solche, die keine Laktasepersistenz haben, konnten problemlos Milch konsumieren, ohne krank zu werden. Bei Personen, die keine Laktasepersistenz aufweisen, führt der Milchkonsum jedoch zu einer hohen Laktosekonzentration im Darm, die Flüssigkeit in den Dickdarm ziehen kann, was in Verbindung mit Durchfallerkrankungen zu Dehydrierung führen kann», so Smith. «Ich vermute, dass dieser Prozess zu einer hohen Sterblichkeit führen könnte, wenn die Belastung durch Infektionskrankheiten zunimmt, da die Populationsgrössen und -dichten auf ein Niveau ansteigen, bei dem einige Infektionserreger kontinuierlich in ihnen zirkulieren können.»

Prof. Mark Thomas stellte ähnliche Überlegungen an, allerdings mit einem stärkeren Fokus auf prähistorische Hungersnöte: «Wenn man gesund, aber nicht laktasepersistent ist und viel Milch trinkt, kann man Krämpfe bekommen, vielleicht auch Durchfall und Blähungen. Das ist nicht angenehm, aber auch nicht tödlich. Wenn Sie jedoch stark unterernährt sind und Durchfall haben, dann haben Sie lebensbedrohliche Probleme. Und vielleicht ist das die beschleunigte natürliche Auslese, nach der wir suchen. Wenn ihre Ernten ausfielen, konsumierten prähistorische Menschen eher unfermentierte Milch mit hohem Laktosegehalt – genau dann, wenn sie es nicht hätten tun sollten.»

Natürliche Selektion der Laktasepersistenz durch Hungersnöte und Krankheitserreger
Um diese Ideen zu testen, hat das Team um Prof. Mark Thomas Indikatoren für vergangene Hungersnöte und die Belastung durch Krankheitserreger in ihre neue statistische Methode integriert. Dr. Yoan Diekmann, Bioinformatiker an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (JGU), fasst zusammen: «Die Ergebnisse stützen eindeutig beide Erklärungen – die Laktasepersistenz-Genvariante war einer stärkeren natürlichen Selektion unterworfen, wenn es Anzeichen für grössere Hungersnöte und mehr Krankheitserreger gab.»

Ohne Laktasepersistenz höhere Sterblichkeit
Die neue Forschung zeigt, dass die Gesundheit der Menschen in der späteren Vorgeschichte, als die Bevölkerung und die Siedlungsgrösse wuchsen, zunehmend durch schlechte sanitäre Verhältnisse und zunehmende Durchfallerkrankungen, vor allem tierischen Ursprungs, beeinträchtigt wurde. Unter diesen Bedingungen hätte der Verzehr von Milch zu einem Anstieg der Sterblichkeitsrate geführt, wobei Menschen ohne Laktasepersistenz besonders gefährdet gewesen wären.

Diese Situation hätte sich unter den Bedingungen einer Hungersnot noch weiter verschärft, wenn Krankheiten und Unterernährung zunehmen. Dies würde dazu führen, dass Individuen, die keine Kopie der Laktasepersistenz-Genvariante in sich tragen, mit grösserer Wahrscheinlichkeit vor oder während ihrer reproduktiven Jahre sterben, was die Prävalenz der Laktasepersistenz in der Bevölkerung in die Höhe treiben würde.PS

  • Zur Originalpublikation
Evershed R P et al., Dairying, diseases and the evolution of lactase persistence in Europe, Nature, 27. Juli 2022, DOI: 10.1038/s41586-022-05010-7
Quelle: Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (JGU)/Pressemitteilung, 28.07.2022

Rosenbergstrasse 115
8212 Neuhausen am Rheinfall
Telefon: +41 52 675 51 74
info@docinside.ch
www.docinside.ch

Handelsregistereintrag
Firmenname: DOCINSIDE AG
UID: CHE-412.607.286

Über uns
Bankverbindung

Schaffhauser Kantonalbank
8200 Schaffhausen
IBAN: CH76 0078 2008 2797 0810 2

Mehrwertsteuer-Nummer
CHE-412.607.286

Kontakte

Dr. med. Adrian Müller
Betrieb und Inhalte
adrian.mueller@docinside.ch

Dr. med. Richard Altorfer
Inhalte und Redaktion
richard.altorfer@docinside.ch

Dr. med. Christine Mücke
Inhalte und Redaktion
christine.muecke@docinside.ch

Copyright © 2021 Alle Rechte vorbehalten.
Powered by Deep Impact / Spectra