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Charité-Team identifiziert Hirn-Netzwerk, das Tics auslöst

Ein Forschungsteam der Charité – Universitätsmedizin Berlin hat ein neuronales Netzwerk identifiziert, das für die Entstehung von Tic-Störungen verantwortlich ist. Eine Reizung dieses Netzwerks durch tiefe Hirnstimulation – bekannt als Hirnschrittmacher – hat bei Menschen mit Tourette-Syndrom zur Linderung der Symptome geführt.

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Tics sind meist kurze Bewegungen oder Lautäusserungen, die oft in rascher Abfolge und ohne ersichtlichen Bezug zur aktuellen Situation wiederholt werden. Starkes Blinzeln oder Kopfschleudern beispielsweise zählen zu den motorischen, Räuspern oder Pfeifen zu den vokalen Tics. In vielen Fällen geht die Erkrankung mit weiteren Verhaltensauffälligkeiten wie Ängsten und Zwängen, ADHS oder einer Depression einher, die soziale Ausgrenzung der Betroffenen ist eine häufige Folge. Eine der wohl bekanntesten Tic-Störungen ist das Tourette-Syndrom, bei dem verschiedene vokale und motorische Tics gemeinsam auftreten. In Erscheinung treten Tic-Störungen meistens in der Kindheit. Schätzungen zufolge sind bis zu vier Prozent aller Kinder betroffen, etwa jedes hundertste Kind erfüllt die diagnostischen Kriterien eines Tourette-Syndroms. Oftmals, aber nicht immer, schwächen sich die Symptome spätestens im Erwachsenenalter ab.

Nur wenig ist darüber bekannt, wie Tics im Gehirn eigentlich entstehen. «In den vergangenen Jahren hat die neurologische Forschung verschiedene Bereiche des Gehirns identifiziert, die für Tics eine Rolle spielen. Unklar blieb jedoch: Welche dieser Hirnareale lösen die Tics aus? Welche sind stattdessen aktiv, um fehlerhafte Prozesse zu kompensieren? Wir konnten jetzt zeigen, dass es nicht eine einzelne Hirnregion ist, die die Verhaltensstörungen verursacht. Tics sind stattdessen auf Fehlfunktionen in einem Netzwerk verschiedener Areale im Gehirn zurückzuführen», erklärt der Letztautor der Studie Dr. Andreas Horn.

Auswertung von Fallbeschreibungen
Für die Studie nutzte das Forschungsteam zunächst bereits veröffentlichte Fallbeschreibungen von Patienten mit einer äusserst seltenen Ursache von Tic-Störungen: Ihre Symptome waren auf eine erworbene Schädigung der Hirnsubstanz zurückzuführen – beispielsweise durch einen Schlaganfall oder Unfall. Bei diesen Betroffenen entstehen Tics also eindeutig durch das verletzte Hirnareal. Die Forschenden fanden in der Literatur 22 solcher Fälle und kartierten im Detail, wo sich die Verletzung der Hirnsubstanz befand und mit welchen anderen Hirnbereichen dieser Ort normalerweise über Nervenfasern verbunden wäre. Für diese Konnektivitätsanalyse nutzten sie einen «Durchschnittsschaltplan»des menschlichen Gehirns, der an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie in Kooperation mit der Harvard Medical School in jahrelanger Arbeit auf Basis von Hirnscans von über 1.000 gesunden Menschen erstellt worden war.

Netzwerk verschiedener Hirnbereiche
Die Forschungsgruppe konnte so zeigen, dass die Hirnschädigungen der Patienten – trotz unterschiedlicher Lokalisation im Gehirn – nahezu alle Teil eines gemeinsamen Nervengeflechts waren. Dieses Netzwerk umfasste verschiedenste Bereiche des Gehirns, nämlich
  • die Inselrinde (Cortex insularis),
  • die Gürtelwindung (Gyrus cinguli),
  • das Striatum,
  • den Globus pallidus internus,
  • den Thalamus
  • sowie das Kleinhirn.
Bassam Al-Fatly, einer der beiden Erstautoren der Studie von der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie, erläutert: «Diese Strukturen sind praktisch über das gesamte Gehirn verteilt und haben unterschiedlichste Funktionen, von der Steuerung der Motorik bis zur Verarbeitung von Emotionen. Sie alle wurden in der Vergangenheit bereits als mögliche Auslöser für Tics diskutiert, ein eindeutiger Beweis ist jedoch bisher nicht gelungen und auch ein direkter Zusammenhang zwischen diesen Strukturen war nicht bekannt. Jetzt wissen wir, dass diese Hirnbereiche ein Netzwerk bilden und tatsächlich die Ursache für Tic-Störungen sein können.»

Netzwerk relevant für die Behandlung
Dass das jetzt identifizierte Nervennetzwerk auch für die Behandlung «klassischer»Tics relevant ist, zeigte das Forschungsteam anhand einer Analyse von 30 Patienten mit Tourette-Syndrom, denen an drei verschiedenen europäischen Behandlungszentren Hirnschrittmacher mit unterschiedlich platzierten Elektroden implantiert worden waren. Die Berliner Wissenschaftler bestimmten anhand von Hirnscans für jeden der 30 Tourette-Betroffenen, wo exakt die Elektroden des Hirnschrittmachers positioniert worden waren und ob diese das Tic-auslösende neuronale Netzwerk stimuliert hatten. Tatsächlich zeigte sich, dass die Symptome der Betroffenen am stärksten zurückgingen, je präziser die Elektroden das Tic-Netzwerk stimulierten.

Gezielte Platzierung von Hirnschrittmachern
«Menschen mit schweren Tic-Störungen profitieren also offenbar am meisten, wenn die tiefe Hirnstimulation auf das Tic-Netzwerk abzielt», sagt Privatdozent Dr. Christos Ganos, Erstautor der Studie und oberärztlicher Leiter der Ambulanz für Tic-Störungen an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie. Er betont: «Diese neue Erkenntnis werden wir in Zukunft in die Behandlung unserer Patienten mit einfliessen lassen, indem wir bei der Implantation des Hirnschrittmachers das Tic-Netzwerk berücksichtigen. Wir hoffen, dass wir so den wirklich hohen Leidensdruck für die Betroffenen noch besser abmildern können, um ihnen ein weitestgehend selbstbestimmtes und sozial erfülltes Leben zu ermöglichen.»PS

  • Zur Originalpublikation
Ganos C et al.: A neural network for tics: insights from causal brain lesions and deep brain stimulation. Brain; 2022; doi: 10.1093/brain/awac009

Quelle: Charité/Pressemitteilung, 19.01.2022

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