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Die juristische Perspektive - Wann hat der Hausarzt Feierabend?

Endlich Feierabend! Oder doch nicht? Der letzte Patientenanruf vor Arbeitsschluss kann es in sich haben. Meist handelt es sich um Banalitäten, die sich schnell lösen lassen, aber nicht immer. Wann ein sofortiges Handeln notwendig ist beziehungsweise das Unterlassen oder Verschieben auf den nächsten Tag eventuell strafrechtliche Folgen haben kann, illustriert der aktuelle Fall in unserer Serie «Arzt und Recht».

Beat Schmidli7.12.2023
Die meisten Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift werden Situationen wie die nachfolgend geschilderte kennen: Man kommt nach einem anstrengenden Tag müde aus der Praxis und freut sich auf den Feierabend. Das Telefon läutet, und als pflichtbewusster Arzt beziehungsweise Ärztin nimmt man den Anruf entgegen. Dies in der Hoffnung, der Anrufer/die Anruferin habe nichts mitzuteilen, was einem einen Strich durch die Rechnung mit dem gemütlichen Abend macht, weil man sich um einen Notfall kümmern muss. Selbstverständlich würde man sich, soweit das notwendig wäre, um den Notfall kümmern; und es ist ja auch nicht jeder Anruf ein Notruf, der ein rasches Tätigwerden erfordert.



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Beat Schmidli


Die Serie «Die juristische Perspektive» wird von Dr. iur. Beat Schmidli, Advokat, langjähriger Partner in einem Advokaturbüro in Basel, seit 2014 Präsident Strafgericht, Jugendgericht und Zwangsmassnahmengericht Kanton Basel-Landschaft, verfasst. Die Serie beleuchtet verschiedene Situationen, in die ein Arzt im Rahmen seiner Tätigkeit geraten kann.


Viele Anrufe drehen sich um Banales. In manchen Fällen kann es aber sein, dass für den Arzt/die Ärztin nicht ganz klar und damit fraglich ist, ob eine zeitnahe Intervention angezeigt ist oder ein Aktivwerden am nächsten Tag ausreicht. Diese Frage zu beantworten heisst zu entscheiden, ob man in den Feierabend geht oder ob man diesen auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt.

Der Fall: Pneumonie mit tödlichem Ausgang
Es soll hier aufgezeigt werden, was geschehen kann, wenn der Arzt sich falsch entscheidet und eine Intervention unterlässt, obwohl eine solche notwendig gewesen wäre. Ich gehe von folgendem, weitgehend fiktivem Sachverhalt aus: Dr. X. ist ein erfahrener Hausarzt, hat einen guten Ruf bei seinen Patienten ebenso wie bei seinen Kolleginnen und Kollegen. Er führt in einer grösseren Ortschaft eine Praxis als Allgemeinpraktiker. Eines Morgens stellt sich P., ein langjähriger Patient von Dr. X., in der Praxis vor. Er leidet unter einem äusserst unangenehmen Husten und berichtet über verschiedene weitere Symptome, die ihn plagen. Dr. X. untersucht ihn und führt verschiedene Tests durch. Schliesslich stellt er die Diagnose einer schweren Lungenentzündung. Die Krankheit ist bereits so weit fortgeschritten, dass Dr. X. den Patienten zur Behandlung in ein Spital einweisen will. Dieser ist von der Aussicht, die nächsten Tage im Spital verbringen zu müssen, wenig begeistert. Er teilt deshalb dem Arzt mit, dass er nun nach Hause gehe, wo er sich im eigenen Bett und nicht in einem Spitalbett auskurieren werde. Dr. X. erklärt ihm, dass, wenn er sich nicht in ein Spital begebe, die Gefahr einer massiven Verschlechterung seines Gesundheitszustands drohe und er gar damit rechnen müsse, an der Lungenentzündung zu sterben. In der Folge verzichtet Dr. X. darauf, P. in ein Spital einzuweisen. Er macht ihn aber noch einmal auf die Risiken aufmerksam, die mit diesem Verzicht verbunden sind. Versorgt mit verschiedenen Medikamenten, verlässt P. die Praxis und geht nach Hause.

Drei Tage später erreicht Dr. X., der soeben nach einem langen Arbeitstag um 20.30 Uhr Feierabend machen will, ein Telefonanruf von P. Dieser berichtet, dass es ihm nicht gut gehe, und fragt, ob er bei ihm vorbeikommen könne. Dr. X. ärgert sich, dass P. nun zur Unzeit wieder seine Hilfe anfordert, und erklärt diesem, dass er sich an den offiziellen Notfalldienst wenden möge, und gibt ihm dessen Telefonnummer bekannt. Er selber könne sich erst am nächsten Tag wieder um ihn kümmern.

Als sich Dr. X. am nächsten Morgen in seine Praxis begibt, hat er doch ein wenig ein schlechtes Gewissen. Er fragt sich, ob es richtig gewesen sei, P. abzuwimmeln. Möglicherweise war P. ja tatsächlich in einer Situation, in welcher er medizinische Hilfe benötigte. Dr. X. versucht deshalb gleich nach der Ankunft in der Praxis, P. telefonisch zu erreichen, was ihm aber nicht gelingt. Leicht beunruhigt, dass P. nicht zu erreichen ist, engagiert er telefonisch einen ihm bekannten Freund von P., der ihm kurz darauf mitteilt, dass es P. schlecht gehe. P. stirbt drei Tage später an seiner Krankheit.

Fahrlässige Tötung?
Die Staatsanwaltschaft leitet ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung ein, nachdem eine Schwester von P. schwere Vorwürfe gegenüber Dr. X. erhebt. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, Dr. X. als behandelnder Arzt habe diesem gegenüber eine Garantenstellung innegehabt. Er wäre P. gegenüber verpflichtet gewesen, nach dessen Anruf und der Bitte um Hilfe aktiv zu werden. Er hätte sich entweder selber um P. kümmern oder dann zumindest dafür sorgen müssen, dass P., der an einer gefährlichen Krankheit leide, anderweitig Hilfe zuteil werde. Dass er am Abend des Telefonats untätig geblieben sei, sei eine von mehreren Ursachen des Ablebens von P. Hätte P. rechtzeitig Hilfe bekommen, wäre er möglicherweise nicht gestorben. Dr. X. sei strafrechtlich haftbar für den Schaden, der entstanden sei, konkret für den Tod von P. Dr. X werde sich wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten müssen. Von einer fahrlässigen Tötung müsse ausgegangen werden, weil Dr. X. sich pflichtwidrig unvorsichtig verhalten und dadurch den Tod seines Patienten (mit-)verursacht habe.

Es stellt sich somit die Frage, welche Pflicht der Arzt verletzt haben könnte. Im Vordergrund steht hier die Obhutspflicht des Arztes als Garantenpflicht. Von einer Garantenpflicht sprechen die Juristen dann, wenn eine Situation vorliegt, in der jemand (der Garant) die Verantwortung für bestimmte Rechtsgüter einer anderen Person übernimmt, in unserem Fall für das Rechtsgut Gesundheit und Leben von P. Der Arzt als Garant ist verpflichtet, alles zu unternehmen, um dieses Rechtsgut zu schützen. Tut er das nicht, verletzt er seine Pflicht. Nur am Rande sei erwähnt, dass es nicht darum gehen kann, dass ein Arzt für den Erfolg seiner Bemühungen haftet; er haftet lediglich – aber immerhin – dafür, dass er seine Dienstleistung sorgfältig und korrekt oder eben «lege artis» erbringt. Welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit jemand als Garant anzusehen ist, ist exemplarisch in Art. 11 StGB (Strafgesetzbuch) unter dem Titel «Begehen durch Unterlassen» geregelt. Die Juristen sprechen bei diesen Konstellationen von einem Unterlassungsdelikt. Eine rechtliche Verantwortung für fremde Rechtsgüter oder eben eine vertragliche Garantenpflicht kann aus verschiedenen Gründen entstehen: Neben vertraglichen Verpflichtungen kommen gesetzliche Pflichten in Frage sowie freiwillige Gefahrengemeinschaft oder Schaffung einer Gefahr. Die Praxis anerkennt noch weitere Situationen. Im vorliegenden Fall ist von einer Garantenstellung von Dr. X. gegenüber P. aus Vertrag auszugehen. Die Beziehung Arzt/Patient ist – nicht nur, aber auch – ein vertragliches Verhältnis. Der Arzt/die Ärztin steht mit dem Patienten grundsätzlich in einer auftragsrechtlichen Beziehung. Eine der Pflichten, die sich für Dr. X. aus diesem Vertragsverhältnis ergeben, ist die bereits erwähnte Fürsorge- und Obhutspflicht. Der Arzt ist, wenn er feststellt, dass sein Patient ein medizinisches Problem hat, vertraglich dazu verpflichtet, alles, was ihm möglich und zumutbar ist, zu unternehmen, um dem Patienten zu helfen. Fehlt es an einem solchen Vertrag zwischen Arzt und Patient, gibt es auch keine Garantenpflicht. Es sei denn, der Arzt befindet sich beispielsweise im Bereitschaftsdienst und ist deshalb gesetzlich zur Hilfeleistung verpflichtet. Hier ist der Arzt wiederum rechtlich zur Hilfe verpflichtet. In unserem Fall hat Dr. X. gegenüber P. eine Garantenstellung aus Vertrag und wäre somit grundsätzlich zur Hilfe verpflichtet gewesen.

Mit dieser Feststellung ist aber noch nicht darüber entschieden, ob sich Dr. X tatsächlich der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht hat. Um dies festzustellen, müsste zunächst noch aufgezeigt werden können, dass Dr. X. tatsächlich fahrlässig, das heisst pflichtwidrig, unvorsichtig gehandelt hat, als er auf den Hilferuf von P. lediglich mit der Bekanntgabe einer Notfallnummer reagiert und sich dazu entschieden hatte, mit weiteren Aktionen bis zum nächsten Tag zuzuwarten. Die verletzte Pflicht müsste dabei seine Garantenpflicht sein. Die Frage, ob Dr. X. seine vertragliche Fürsorgepflicht tatsächlich verletzt und sich pflichtwidrig unvorsichtig verhalten hat, soll aber an dieser Stelle offenbleiben. Dies deshalb, weil aus dem gegebenen Sachverhalt keine klaren Aussagen zu den Überlegungen von Dr. X. gemacht werden können, auf die es aber ankommt.

Kausalzusammenhang zwingend
Selbst wenn zuverlässig festgestellt werden könnte, was die Intentionen von Dr. X. gewesen sind, und dabei bewiesen werden könnte, dass Dr. X. pflichtwidrig unvorsichtig gehandelt hat, würde das immer noch nicht für eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung ausreichen. Für eine Verurteilung wäre nämlich zusätzlich notwendig, dass aufgezeigt werden könnte, dass mit einem rascheren Handeln durch Dr. X. oder eine andere Person der Tod von P. hätte abgewendet werden können. Bei einer derartigen Konstellation sprechen wir von einem sogenannten adäquat kausalen Zusammenhang zwischen Pflichtverletzung und eingetretenem Erfolg (die Juristen nennen das so!). Liegt dieser Kausalzusammenhang nicht vor, kann keine Verurteilung erfolgen, weil dann eben auch kein Vorwurf erhoben werden kann.

Die Staatsanwaltschaft schliesslich hat im Rahmen ihrer Ermittlungen ein Gutachten erstellen lassen, das sich auch dazu äusserte, ob P. bei raschem Eingreifen hätte gerettet werden können. Das Gutachten konnte keine Klärung dieser Frage erbringen. Die Konsequenz dieser Feststellung besteht darin, dass nicht geringe Zweifel daran bleiben, dass P. überhaupt noch eine Überlebenschance gehabt hätte. Wenn diese Zweifel aber bestehen bleiben, fehlt es am Nachweis der adäquaten Kausalität; die Zweifel führen nach dem Prinzip «in dubio pro reo» zu einer Einstellung des Verfahrens.

Wir stellen fest: Als Arzt/Ärztin ist man in mancherlei Hinsicht an Pflichten gebunden, die die meisten anderen Berufsgruppen nicht kennen, deren Verletzung aber massive (straf-)rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Es lohnt sich also sicher in jedem Fall, bei einem Notruf genau hinzuhören und sich vielleicht noch ein zweites Mal zu überlegen, ob einen eine Handlungspflicht trifft. Dies aus dem einfachen Grund, dass man nicht unerwartet in die Situation gerät, sich vorwerfen lassen zu müssen, man habe ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt begangen, obwohl man ja gerade nichts gemacht hat. Feierabend sollte demnach erst gemacht werden, wenn die beruflichen Pflichten erfüllt sind.

Dr. iur. Beat Schmidli

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