Es ist ein Problem, dem wohl kaum jemand mit medizinischem Wissen ausweichen kann: Jeder Arzt ist schon einmal um medizinischen Rat gefragt worden – und zwar nicht in der Praxis oder im Spital. Sondern beim Familienfest oder nach Feierabend am Telefon.
Schnell-Diagnose beim Sport oder zuhause
Das zeigt das Beispiel eines Berner Sportmediziners, der selber Ausdauersportler ist. Geht er mit Sportkollegen laufen oder radfahren, kommt häufig die Frage: «Du, mir tuts hier weh, was könnte das sein?»
Manchmal erhält er nach Feierabend sogar noch einen Anruf von Bekannten und wird um seine Meinung zu einem medizinischen Problem gefragt. Und zwar nicht nur im Sportbereich. Sondern auch zu Covid-19-Erkrankungen oder Wespenstichen.
96 Prozent würden Freunden Ratschläge geben
Gemäss einer Umfrage der deutschen Ärzteplattform «Medscape» würden 96 Prozent der Ärzte ihren Freunden und Angehörigen Ratschläge geben. Bei solchen Konsultationen beim Grillieren oder am Telefon gibt es allerdings ein Problem: Meist fehlt eine Untersuchung, eine ausführliche Anamnese und auch die Weiterbetreuung. Ohne diese Voraussetzungen sollte niemand konkrete medizinische Ratschläge erteilen.
Das heisst nicht, dass Ärzte oder Pflegepersonal in solchen Fällen abweisend reagieren müssen. Es auch unbedenkliche Hilfsangebote – solange sie allgemein sind. Vorschläge wie «Hör auf zu rauchen», «achte auf gesunde Ernährung» oder «schlaf genug» sind immer erlaubt. Auch auf die Beantwortung von sachlichen Fragen wie «Was ist Alzheimer für eine Erkrankung?» oder «Wie funktioniert der Corona-Impfstoff?» dürfen sich medizinische Fachleute einlassen.
Ein Rat kann auch schaden
Problematisch ist es, wenn zum Beispiel Fragen nach einer speziellen Behandlung beantwortet werden. Der Medizinrechtler Jeff Caesar Chukwuma aus Florida, warnt laut «Medscape»: Wenn medizinische Fachleute ihren Freunden und Verwandten Ratschläge geben, müssen sie sich selbst und die Ratsuchenden schützen. Dazu gehöre es, nie Ratschläge in Fachbereichen zu geben, in denen sie sich nicht gut auskennen. Sie könnten sich nämlich irren und durch falsche Informationen Schaden anrichten.
Keine Behandlung von engen Familienangehörigen
Die American Medical Association (AMA) hat sich mit der Behandlung von Familienangehörigen beschäftigt. In ihren Richtlinien schreibt sie unmissverständlich: Ärzte sollten sich selbst oder enge Familienangehörige nicht behandeln. Zu gross sei die Gefahr, dass in solchen Fällen die professionelle Urteilsfähigkeit durch die persönliche Gefühlslage beeinträchtigt werde.
Das Problem ist: Bei Freunden und Bekannten scheuen Ärzte und Pflegefachleute vielleicht davor zurück, intime Fragen zur Krankengeschichte zu stellen. Oder umgekehrt hält der Patient vielleicht bestimmte Informationen zurück.
Die AMA gibt deshalb folgende Tipps:
Im Zweifelsfall lehne man eine Behandlung von Verwandten höflich ab. Im Gegenzug solle man andere Formen der Unterstützung anbieten – zum Beispiel bei der Suche nach einem qualifizierten Arzt. Das gelte nicht für Notfälle.
In der Schweiz gibt es keine Richtlinien über die Behandlung oder die Beratung von Verwandten und Freunden. Viele Ärzte sehen darin auch gar kein Problem. So gab etwa eine Unfallchirurg und Orthopäde gegenüber dem deutschen Ärzteblatt zu Protokoll: Er operiere seine Angehörigen selber und schicke sie nicht zu einem aus seiner Sicht möglicherweise nicht so kompetenten Kollegen. Als Arzt müsse man sich dieser Aufgabe stellen.
Praxis oder Spital ist bessere Umgebung
Doch nicht alle medizinischen Fachleute sind sicher, dass sie ihre Objektivität bewahren könnten. Dazu kommt: Viele Ärzte finden die Praxis oder das Spital ohnehin die bessere Umgebung für medizinische Gespräche oder Untersuchungen. Beim Abendessen sei kein routiniertes Gespräch, keine gewissenhafte Dokumentation und auch keine Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht möglich.PS