Ein Forscherteam vom Max-Planck-Institut (MPI) für molekulare Biomedizin hat diese Zusammenhänge in Kooperation mit Kollegen von der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster untersucht.
Retina-Organoid-Modell
Die MPI-Gruppe um Thomas Rauen und Hans Schöler erstellte zunächst aus menschlichen reprogrammierten Stammzellen Organoide der Netzhaut. Dabei erwies sich das Retina-Organoid-Modell als relevante Alternative zu Tierversuchen: SARS-CoV-2-Infektionen lassen sich beim Menschen nicht oder nur unzulänglich im Tiermodell nachbilden. «Unser Retina-Organoidsystem bildet die anatomisch komplexe Struktur der menschlichen Netzhaut erstaunlich gut nach», sagt Yotam Menuchin-Lasowski, Urheber des Organoid-Modells.
Als Ausgangszelltyp für die Netzhautorganoide wurden menschliche iPS-Zellen verwendet. In drei bis vier Monaten entstehen aus den iPS-Zellen unter geeigneten Kulturbedingungen ausgereifte Retina-Organoide, in denen sich die verschiedenen Zelltypen in Netzhaut-typischer Weise anordnen. «Im Gegensatz zu den Netzhautorganoid-Modellen anderer Forschungsgruppen weisen unsere in erster Linie Eigenschaften des sogenannten Gelben Flecks auf – also des Bereiches der menschlichen Netzhaut, der den Ort des schärfsten Sehens darstellt», sagt Menuchin-Lasowski.
Nachweis von SARS-CoV-2-mRNA
Die ausgereiften Netzhautorganoide wurden von André Schreiber und Stephan Ludwig vom Institut für Molekulare Virologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit SARS-CoV-2 Viren inkubiert und nach festgelegten Inkubationszeiten analysiert. So gelang den Forschern mittels quantitativer PCR-Analyse der Nachweis von SARS-CoV-2 mRNA in den Organoiden, was darauf hindeutet, dass Zellen in den Organoiden tatsächlich vom Virus infiziert wurden.
Um darüber hinaus die aktiven Viruskonzentrationen zu messen, die von den infizierten Organoiden produziert wurden, kam ein viraler Plaque-Assay zum Einsatz: Es hatten sich in den Retina-Organoiden neue Virusnachkommen gebildet. «Dies ist der erste Nachweis, dass sich SARS-CoV-2 in menschlichen Netzhautzellen repliziert», sagt Thomas Rauen.
Hauptsächlich befallen: Photorezeptoren, retinale Ganglienzellen
Um zu erfahren, welche Zellen in den Retina-Organoiden betroffen sind, analysierten die Forscher sie im Fluoreszenzmikroskop. Mithilfe verschiedener Immunmarker für die unterschiedlichen Zelltypen der Netzhaut und mit einem fluoreszierenden Antikörper gegen das Nucleoprotein (N-Protein) von SARS-CoV-2 zeigte sich, dass hauptsächlich zwei Zellschichten der Retina-Organoide infiziert wurden. «Zum einen befanden sich viele der N-Protein-angefärbten Zellen in der äusseren Körnerschicht der Organoide», sagt Menuchin-Lasowski. Das ist die Zellschicht, in der sich die Photorezeptoren befinden. «Einige dieser Zellen mit dem N-Protein wiesen tatsächlich das typische Aussehen der Lichtsinneszellen auf», ergänzt er.
«Der Zelltyp, in dem wir jedoch am häufigsten das N-Protein von SARS-CoV-2 nachweisen konnten, sind retinale Ganglienzellen», so Menuchin-Lasowski. Interessanterweise hängen viele der mit COVID-19 verbundenen Netzhautsymptome mit retinalen Ganglienzellen zusammen, die bisher allerdings vorwiegend mit sekundären Auswirkungen anderer SARS-CoV-2-verursachter Krankheitssymptome in Verbindung gebracht wurden, wie Schäden an den Blutgefässen oder eine Erhöhung des Augendrucks.
«Unsere aktuelle Retina-Organoid Studie zeigt jedoch, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 direkte pathologische Folgen für die retinalen Ganglienzellen haben kann, auch wenn Sehbehinderungen bei Patienten mit COVID-19 nicht häufig vorkommen», sagt Thomas Rauen. «Doch unsere Daten geben Grund zur Annahme, dass Long-COVID-Symptome degenerative Erkrankungen der Netzhaut einschliessen können.»PS