Fünf Sinne hat der Mensch, um seine Umgebung wahrzunehmen: Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken. Verliert er einen davon, kompensieren den Verlust zum Teil die verbliebenen Sinne. Gehörlos geborene Menschen haben dann verbesserte visuellen Fähigkeiten. Crossmodale Plastizität nennt die Wissenschaft die Fähigkeit des Gehirns, sich bei Verlust eines Sinnessystems einem anderen zuzuwenden.
Unwiderrufliche Übernahme?
Bislang galt die Lehrbuchmeinung, dass bei Gehörlosigkeit eine Übernahme des Hörsystems stattfindet, bei der etwa das visuelle System Teile des auditorischen Cortex unwiderruflich übernimmt. Um diesen Effekt nicht zu fördern, haben manche Forscher vorgeschlagen, Kommunikation durch Gesten oder Gebärden mit gehörlos geborenen Kindern vor dem Einsetzen einer Hörprothese wie dem Cochlea Implantat (CI) zu vermeiden.
Anatomie der Schaltkreise ändert sich nur wenig
Jetzt hat ein deutsch-amerikanisches Autorenteam mit Professor Dr. Andrej Kral, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Audio- und Neurotechnologie (VIANNA) der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), neueste Daten und Studien aus eigenen Laboren mit anderen verglichen. Diese Daten belegen, dass sich bei crossmodalen Reorganisation die Anatomie der Schaltkreise im Gehirn wenig ändert. Die existierenden Netzwerke werden nur anders genutzt. Bei Wiederherstellung des Gehörs bildet sich die crossmodale Reorganisation wieder zurück.
Auditorische Hirnrinde wird nicht zum «Schlachtfeld der anderen Sinne»
Beim Hören wird der Schall im Innenohr in elektrische Impulse umgewandelt und über den Hörnerv über Mittelhirn und Zwischenhirn zur Grosshirnrinde weitergeleitet. Dort befindet sich der auditorische Cortex, der für die Verarbeitung von akustischen Reizen verantwortlich ist. Gehörlose nutzen Teile des auditiven Verarbeitungszentrums in der Grosshirnrinde für Seheindrücke, wie etwa die Bewegungserkennung. «Die Reorganisation des Gehirns ist für Gehörlose hilfreich, um sich in der Umwelt ohne Hörsinn besser zurechtzufinden», sagt Professor Kral. «Doch im Gegensatz zu früheren Annahmen werden die neuronalen Verbindungen zum Hörsinn nicht zerstört, der auditorische Cortex wird also nicht zum Schlachtfeld zwischen den verbleibenden Sinnen. Das vorhandene Netzwerk wird leicht verändert und anders genutzt.»
Das zeigen neueste Daten von Tiermodellen sowie von gehörlosen Kindern mit Hörverlust. Vielmehr sei die crossmodale Reorganisation ein dynamischer Prozess, der bereits bestehende Nervenverbindungen zu anderen Sinnessystemen stärker nutzt, schon bei leichtem Hörverlust stattfindet und sich nach Wiederherstellung des Hörens zurückbildet. «Daher besteht auch kein Anlass, die visuelle Kommunikation vor dem Einsetzen einer Hörprothese zu unterbinden», betont der Wissenschaftler. «Diese ist für die Entwicklung des Kindes wichtig.»
Hörprothese so früh wie möglich einsetzen
Gleichwohl ist ein schnelles Einsetzen eines CIs bei gehörlos geborenen Kindern entscheidend. Ein Hörverlust hat umfangreiche negative Auswirkungen auf das Hörsystem selbst, die eine crossmodale Reorganisation nicht kompensieren kann. «Eine frühe Therapie mit einem CI ist deswegen erforderlich, weil sich bei angeborener Gehörlosigkeit das Hörsystem selbst nicht normal entwickeln kann», erläutert Professor Kral.
«Wenn ein Kind frühe Hörerfahrungen verpasst, verliert es viele Kontaktstellen im auditorischen Cortex und erlernt später nicht mehr, Höreindrücke und Sprachlaute zu erkennen und das Hören in die anderen Sinneswahrnehmungen zu integrieren.» Daher müsse eine Hörprothese so früh wie möglich eingesetzt werden, am besten im ersten Lebensjahr, allerspätestens bis zum dritten Lebensjahr. «Danach ist das kritische Periode für die Hörtherapie geschlossen.»PS