In der Gaming-Szene haben Virtual-Reality-Brillen, die ihre Trägerinnen und Träger in eine dreidimensionale Fantasiewelt entführen, längst einen festen Platz. Nun setzen sie sich zunehmend auch im klinischen Alltag durch. Medizinische Eingriffe lösen bei vielen Patienten Angst und Stress aus. Das Eintauchen in eine andere Welt kann sie beruhigen und von einer schmerzhaften Situation ablenken. Dank der virtuell erzeugten optischen und akustischen Sinneseindrücke fühlen sich die Patientinnen und Patienten wohler und ihr Stresspegel sinkt. Dies erleichtert den medizinischen Eingriff und begünstigt positive Resultate.
Eine neue Pilotstudie unter der Leitung des Universitären Notfallzentrums des Inselspitals, Universitätsspital Bern, und der Universität Bern deutet darauf hin, dass sich VR-Technologien auch im umtriebigen Alltag einer Notfallstation bewähren. An der Studie nahmen in einem Zeitraum von vier Monaten 52 Notfallpatientinnen und -patienten teil. Die Studienteilnehmenden hatten unterschiedliche Beschwerden, litten aber alle unter Schmerzen, deren Stärke sie auf einer Zehn-Punkte-Skala mit drei oder höher einstuften. Schmerzen am Bewegungsapparat, Kopf oder Bauch traten am häufigsten auf.
Alle Studienteilnehmenden erhielten eine VR-Brille, die ihnen entweder einen virtuellen Ausflug in den Wald oder an den Strand ermöglichte. Das immersive Erlebnis dauerte 20 Minuten, konnte aber für wichtige medizinische Eingriffe oder auf Wunsch der Probanden jederzeit unterbrochen werden.
Die Ergebnisse der Pilotstudie zeigen deutlich: Der Einsatz von virtueller Realität zur Linderung von Schmerzwahrnehmung und Ängsten lohnt sich selbst unter hektischen Umständen, wie sie in Notfallstationen üblich sind. Dank des Virtual-Reality-Erlebnisses verminderten sich die Schmerzen bei den Studienteilnehmenden um durchschnittlich 1,5 Punkte und die Angstzustände um 2 Punkte auf der Zehn-Punkte-Skala. Mehr als die Hälfte der Patienten kamen zum Schluss, dass ihnen die VR-Therapie half, Schmerzen weniger stark zu spüren und über 90 Prozent würden sie weiterempfehlen. Frauen und Männer profitierten gleich gut von der Behandlung.
Der Studienleiter Prof. Dr. med. Thomas Sauter, Leitender Arzt am Universitären Notfallzentrum des Inselspitals und Professor für Telenotfallmedizin an der Universität Bern, freut sich über das gute Ergebnis: «Es besteht ein dringender Bedarf an nicht-medikamentösen Therapien zur Schmerzlinderung in der Notfallstation. Klassische Entspannungsübungen und Meditation können zwar ebenfalls bei Schmerzen und Stress helfen, eignen sich aber schlecht für den hektischen Alltag einer Notfallstation.» Als nächsten Schritt plant das Forscherteam eine gross angelegte Studie, um die Ergebnisse des Pilotversuchs zu überprüfen und den Einsatz von VR in der Notfallstation zu optimieren.
Das Potential der VR-Technologie wird übrigens auch in der medizinischen Aus-, Weiter- und Fortbildung gezielt genutzt. Mit dem 2020 gegründetem Virtual Insel Simulation Lab (VISL) spielt das Universitäre Notfallzentrum auch hier eine Vorreiterrolle. Unter der Leitung von Dr. med. Tanja Birrenbach und Prof. Dr. med. Thomas Sauter wurden bereits verschiedene VR-Anwendungen für das Training von Gesundheitspersonal entwickelt und wissenschaftlich evaluiert. Solche Simulationen sind besonders gut geeignet, um seltene, komplexe medizinische Interventionen in einem immersiven Umfeld zu erlernen und regelmässig zu üben.PS