Herr Müller, viele überlegen, ob sie sich erneut gegen COVID-19 impfen lassen sollten. Eine Studie unter Ihrer Leitung wirft neue Fragen zur wiederholten Auffrischimpfung auf. Können Sie die wichtigsten Punkte zusammenfassen?
Unser Fokus lag auf seltenen, aber relevanten Auswirkungen des ersten COVID-Boosters auf die Herzmuskelzellen. Bisher hat man dieses Phänomen nur passiv beobachtet und nicht aktiv danach gesucht. Es gab also nur Daten von schweren Fällen einer Herzmuskelentzündung vor allem bei jungen Männern, die im Spital behandelt werden mussten. Unsere Frage war, wie häufig Schäden an Herzmuskelzellen nach dem COVID-Booster tatsächlich vorkommen. Dafür haben wir bei Mitarbeitern des Universitätsspitals drei Tage nach der Auffrischimpfung den Marker «kardiales Troponin» im Blut gemessen. Steigt die Menge des kardialen Troponins über den Normbereich, lässt das auf Schädigung an Herzmuskelzellen schliessen. Es ging uns auch darum zu untersuchen, wie lange eine Schädigung anhält (Weitere Informationen zur Studie finden Sie im Kasten unten).
Und was war das Ergebnis?
Wir haben erhöhte kardiale Troponinwerte bei einem höheren Anteil der Geimpften festgestellt als erwartet. Aus der früheren, passiven Beobachtung der schweren Fälle hatte man geschlossen, dass von 100 000 Geimpften etwa 35 eine Herzmuskelentzündung entwickeln. In unserer Studie haben wir Hinweise auf milde, vorübergehende Herzmuskelzellschäden bei 22 der 777 Teilnehmer festgestellt, also bei 2,8 Prozent statt der erwarteten 0,0035 Prozent. Da gibt es also eine leichte Herzmuskelzellschädigung bei knapp drei Prozent, was man nicht überbewerten, aber auch nicht ignorieren sollte.
Macht es einen Unterschied, ob man vor der Booster-Impfung auch schon genesen ist?
Dazu lässt sich anhand der bisher vorhandenen Daten noch keine Aussage machen.
Im Vergleich dazu: Wie viel Prozent der Corona-Infizierten erleiden Schäden an Herzmuskelzellen durch das Virus?
Auch das wissen wir nicht genau. Bekannt ist, dass schwerere Verläufe auch den Herzmuskel schädigen können, aber systematisch und auf Basis der sehr sensitiven kardialen Troponinmessung ist das bisher nicht untersucht worden. Bestenfalls müsste man dafür auch die kardialen Troponinwerte vor der Erkrankung und dann während der Erkrankung messen.
Gibt es eine Hypothese, wie es zur Schädigung der Herzmuskelzellen kommt?
Da stellen sich viele Fragen: Löst ein Nebeneffekt der Immunantwort die Schädigung aus? Spielt die mRNA-Technologie an sich eine Rolle? Oder spezifische Bestandteile des Coronavirus, mit denen immunisiert wird? Das müssen weitere Studien untersuchen. In unserer Studie haben wir nur den Moderna-Impfstoff angeschaut, weil wir zum damaligen Zeitpunkt nur diesen zur Verfügung hatten. Andere Studien lassen darauf schliessen, dass die Schädigung von Herzmuskelzellen beim Impfstoff von Pfizer/Biontech seltener ist. Der Unterschied könnte auch an der eingesetzten Menge der mRNA liegen. Der Moderna-Impfstoff hat vor allem bei der zweiten Dosis mehr mRNA enthalten, und könnte dadurch wahrscheinlich auch etwas effizienter gewesen sein, aber eben auch mehr Nebenwirkungen gemacht haben.
Das klingt, als läge es an der mRNA?
Nicht unbedingt. Mehr mRNA bedeutet mehr Virusprotein und damit auch eine stärkere Immunantwort. Wir können also noch nicht sagen, ob es die höhere Dosis mRNA oder die heftigere Reaktion des Immunsystems ist, die die Schädigung begünstigt.
Bisher hielt man junge Männer für die am häufigsten betroffene Gruppe. Hat sich das in Ihren Daten bestätigt?
Bisher ging es wie gesagt um schwere Fälle, die im Spital gelandet sind. Wenn wir unsere Daten mit milden Fällen anschauen, sehen wir diesen Effekt bei Frauen häufiger als bei Männern – und nicht nur bei Jüngeren.
Wie schlimm sind diese – wie Sie sagen – milden Effekte?
Wir sind auch natürlichen Infektionen ausgesetzt, Corona oder Grippe, die den Herzmuskel schädigen können. Trotzdem müssen wir die Effekte in der Risiko-Nutzen-Abwägung gerade für jüngere Menschen berücksichtigen, was aber anhand der derzeitigen Datenlage schwierig ist. Der Herzmuskel kann sich gemäss heutigem Wissen nicht oder allenfalls minim regenerieren. Es ist daher möglich, dass jährliche Impfungen milde Schädigungen nach sich ziehen. Wir müssen aufgrund der erhöhten kardiovaskulären Ereignisse während und kurz nach einer Coronainfektion annehmen, dass die Erkrankung zu stärkeren schädlichen Effekten am Herzen führt. Für letzteres gibt es harte Evidenz.
Wie bewerten Sie die Situation bei der COVID-19-Impfung bei Kindern?
Auch dazu gibt es kaum Daten. Eine thailändische Studie hat den Effekt der Booster-Impfung auf den Herzmuskel bei Jugendlichen untersucht und kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie wir bei Erwachsenen. Bei jüngeren Kindern weiss man es einfach noch nicht. Weder was die Impfung noch was die Erkrankung mit deren Herzmuskelzellen macht.
Herz-Kreislauf-Patienten gehören zu den Gruppen, denen eine Impfung empfohlen wird. Ändern die neuen Ergebnisse etwas an dieser Empfehlung?
Nein, die Empfehlung bleibt so bestehen. Diese Gruppen haben ein höheres Risiko für schwere Verläufe mit gravierenden gesundheitlichen Folgen. Der hohe Nutzen eines starken Impfschutzes für diese Gruppen steht ausser Zweifel.
Teile der Bevölkerung sind nach wie vor skeptisch gegenüber der mRNA-Impfung, weil sie zu wenig erprobt sei. Haben sie Recht behalten?
Das würde ich so nicht sagen. Die mRNA-Impftechnologie ist eine fantastische Entwicklung. Dieser effiziente Schutz, den die Impfstoffe von Moderna und Pfizer/Biontech gebracht haben, war ja eine medizinische Sensation. Ohne diese Entwicklung wäre der Schaden durch die Pandemie um mehrere Grössenordnungen höher gewesen. Die Impfstoffe haben Millionen Menschenleben gerettet.
Welche offenen Fragen zur Impfung sehen Sie als am drängendsten?
Wie gesagt, wir kennen den Mechanismus noch nicht, wie genau die Booster-Impfung die Herzmuskelzellen schädigt. Wenn wir den kennen, könnte man die Impfstoffe weiter optimieren, damit sie einen effizienten Impfschutz gewährleisten, aber bestenfalls den Herzmuskel nicht schädigen. Der Ball liegt jetzt wieder im Feld der Impfstoffhersteller. Bei der Sicherheitsprüfung der Auffrischimpfungen müssen sie künftig das Phänomen der Herzmuskelzellschädigung ebenfalls berücksichtigen.
Was empfehlen Sie denjenigen, die ihren Impfschutz trotz allem auffrischen möchten?
Es besteht ja bereits die Empfehlung, sich in den ersten Tagen nach der Impfung mit Sport zurückzuhalten. Das ist sicher sinnvoll, um den Herzmuskel in diesem Zeitfenster nicht zusätzlich zu belasten und Schädigungen gegebenenfalls zu verschlimmern. Man muss aber sagen, dass auch noch nicht wissenschaftlich bewiesen ist, dass Sport die Schädigung verschlimmern würde. Medikamente oder Methoden, um eine allfällige Schädigung der Herzmuskelzellen nach der Impfung zu verhindern, haben wir bisher leider nicht.PS
Test auf Herzmuskelschäden nach der Booster-Impfung
An der Studie waren Forscher um den Kardiologen Prof. Dr. Christian Müller, den Infektiologen Prof. Dr. Manuel Battegay, den Personalarzt Dr. Florian Banderet-Uglioni, den Kardiologen PD Dr. Philip Haaf und den Immunologen PD Dr. Christoph Berger beteiligt. Teilgenommen haben 777 Mitarbeiter (davon 540 Frauen) des Universitätsspitals Basel, die ihren Impfschutz mit einer dritten Impfung im Dezember 2021 und Anfang 2022 auffrischen wollten.
An Tag 3 nach der Impfung testeten die Forscher das Blut der Geimpften auf die Konzentration des Biomarkers Troponin, der mit der Schädigung von Herzmuskelzellen zusammenhängt: Je mehr Herzmuskelzellen sterben, desto höher der kardiale Troponinwert.
- Bei 22 (also 2,8 Prozent) von ihnen konnten die Forscher tatsächlich Werte über dem Normbereich feststellen, davon waren 20 Frauen und 2 Männer.
- Der Anteil der Frauen, die nach der Booster-Impfung Herzmuskelzellschäden zeigten, lag demnach bei 3,7 Prozent, bei den Männern lag der Anteil nur bei 0,8 Prozent.
- An Tag 4 lagen die kardialen Troponinwerte bei der Hälfte der Frauen und bei beiden Männern wieder im Normbereich.