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imageAutismus ist kein einheitliches Störungsbild – genetisch und entwicklungsbezogen zeigt das Spektrum viele Facetten. Symbolbild: Unsplash.

Früh oder spät erkannt – Autismus hat zwei genetische Gesichter

Eine Nature-Studie zeigt: Früh diagnostizierte Kinder unterscheiden sich genetisch und entwicklungsbezogen deutlich von jenen, deren Autismus erst im Jugend- oder Erwachsenenalter erkannt wird. Damit verliert das Bild der «einen Autismus-Störung» an Gültigkeit.

Sarah Bourdely6.10.20254"
Eine in «Nature» publizierte internationale Studie stellt das bisherige Verständnis von Autismus infrage. Forschende um Xinhe Zhang und Varun Warrier (University of Cambridge) zeigen, dass sich Autismus je nach Diagnosealter genetisch und entwicklungsbezogen unterscheidet. Das Diagnosealter selbst ist teilweise erblich – und könnte künftig helfen, das Spektrum präziser zu verstehen.

Die Studie erscheint inmitten einer von Donald Trump befeuerten Debatte um angebliche Zusammenhänge zwischen Paracetamol in der Schwangerschaft und Autismus.
Zwei genetische Muster
Basierend auf Daten von über 45’000 Personen aus internationalen Kohorten (iPSYCH, SPARK) und vier Geburtskohorten identifizierte das Team zwei unterschiedliche Entwicklungsverläufe:

  • Kinder mit früher Diagnose zeigten schon im Vorschulalter deutliche soziale und kommunikative Auffälligkeiten.
  • Später Diagnostizierte waren zunächst unauffällig, entwickelten aber in der Adoleszenz zunehmende emotionale und soziale Probleme.

Genetisch liessen sich zwei nur schwach korrelierte Faktoren (rg ≈ 0,38) nachweisen: Ein «früher» Faktor, verbunden mit Entwicklungsverzögerungen, und ein «später» Faktor, der stark mit ADHS, Depression und PTBS überlappt.

Gemeinsam erklärten genetische Varianten rund elf Prozent der Varianz des Diagnosealters. In früheren Studien wurden soziale, demografische und klinische Faktoren mit dem Alter bei der Autismusdiagnose in Verbindung gebracht. Diese erklären etwa 15 Prozent der Varianz.
Nicht eine Störung, sondern mehrere
Die Ergebnisse stützen das «Entwicklungsmodell» des Autismus: Früh und spät diagnostizierte Personen bilden zwei genetisch und klinisch unterscheidbare Subgruppen.

«Es ist an der Zeit zu erkennen, dass "Autismus" zu einem Sammelbegriff für verschiedene Erkrankungen geworden ist», betont Uta Frith (University College London) gegenüber dem Science Media Center. Wenn von einer «Autismus-Epidemie», einer «Ursache für Autismus» oder einer «Behandlung für Autismus» die Rede sei, müsse deshalb sofort die Frage gestellt werden: «Welche Art von Autismus?».
«It is time to realize that ‘autism’ has become a ragbag of different conditions. If there is talk about an ‘autism epidemic,’ a ‘cause of autism,’ or a ‘treatment for autism,’ the immediate question must be, which kind of autism?» Uta Frith, University College London.
Michael Absoud vom King’s College London mahnt seinerseits zur Zurückhaltung: Die Verhaltensdaten basierten auf kleinen Geburtskohorten und beruhen auf Elternangaben, was die Genauigkeit der beschriebenen Entwicklungsverläufe einschränke. Dennoch bestätige die Studie, «dass Autismus nicht nur in hohem Masse vererbbar ist und ein Spektrum von Erkrankungen umfasst, sondern dass auch das Alter bei der Diagnose von Autismus vererbbar ist.»
Bedeutung für die Praxis
Für Ärztinnen und Ärzte bedeutet das: Eine späte Diagnose kann auf andere genetische Grundlagen und höhere Komorbiditätsrisiken hinweisen. Wiederholte Screenings in der Kindheit und Jugend sowie interdisziplinäre Begleitung bleiben entscheidend.

Die Studie verdeutlicht: Autismus ist kein einheitliches Krankheitsbild, sondern ein Spektrum verschiedener Entwicklungs- und Genetikpfade. Das Alter der Diagnose könnte künftig helfen, diese Vielfalt besser zu erkennen – und den Weg zu individuelleren Behandlungsansätzen ebnen.

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